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„Spezielle Lieferung für Frau Doktor Tess Culver.“

Tess sah von einer Patientenakte auf und lächelte, trotz der späten Stunde und ihrer Müdigkeit. „Irgendwann die Tage werde ich lernen, auch mal Nein zu sagen.“

„Denkst du, du brauchst da noch Übung? Wie wär’s, wenn ich dich mal wieder frage, ob du mich heiraten willst?“

Sie seufzte, schüttelte den Kopf und sah in die hellblauen Augen und das strahlende Grinsen, das allein ihr galt. „Ich meine nicht uns beide, Ben. Und wie war das mit acht Uhr? In fünfzehn Minuten ist Mitternacht, um Himmels willen.“

„Na und? Hast du vielleicht vor, dich in einen Kürbis zu verwandeln?“ Er gab dem Türknauf einen Schubs und schlenderte in den kleinen Büroraum, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Diese Dinge laufen eben nicht immer genau nach Plan.“

„Mhm. Also, wo ist er?“

„Hinten im Lieferwagen.“

Tess stand auf, zog einen elastischen Haargummi vom Handgelenk und fasste ihr offenes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre üppigen goldbraunen Locken sahen immer etwas zerzaust aus, sogar wenn sie frisch vom Friseur kam. Jetzt, nach sechzehn Stunden Dienst in der Klinik, befand ihr Haar sich in einem Stadium völliger Anarchie. Sie blies sich eine Strähne aus den Augen und ging an ihrem Exfreund vorbei auf den Gang.

„Nora, machst du mir bitte eine Spritze Ketamin-Xylazin fertig? Und bitte bereite den Untersuchungsraum für mich vor -  den großen.“

„Wird gemacht“, zwitscherte ihre Assistentin. „Hallo Ben.

Fröhliches Halloween.“

Er zwinkerte ihr mit seinem berüchtigten Lächeln zu, von dem beinahe jeder Frau die Knie weich wurden.

„Hübsches Kostüm, Nora. Was bist du denn, ein Schweizermädel? Zöpfchen und Lederhosen stehen dir echt gut.“

„Merci vielmals“,  antwortete sie und strahlte ihn an, während sie den Empfangsbereich verließ, um zum Medikamentenschrank zu gehen.

„Und wo ist dein Kostüm, Tess?“

„Ich habe es an.“ Sie ging vor ihm her durch die Zwingerabteilung, vorbei an einem Dutzend Käfigen voll schläfriger Hunde und nervöser Katzen, die sie zwischen ihren Gitterstäben unruhig anstarrten. Tess rollte genervt die Augen. „Mein Kostüm heißt: die Super-Tierärztin, die wahrscheinlich ins Kittchen kommt für das, was sie heute macht.“

„Ich sorge schon dafür, dass du keine Schwierigkeiten kriegst.

Bisher gab es doch auch nie welche. Oder?“

„Und was ist mit dir?“ Sie stieß die Tür zum hinteren Lagerraum der kleinen Klinik auf und ging mit ihm hindurch. „Du arbeitest in einer gefährlichen Branche, Ben. Du gehst zu viele Risiken ein.“

„Machst du dir etwa Sorgen um mich, Doc?“

„Natürlich mache ich mir Sorgen um dich. Ich liebe dich.

Das weißt du.“

„Ja“, sagte er leicht verstimmt, „wie einen Bruder liebst du mich.“

Die Hintertür der Tierklinik ging auf eine schmale Gasse hinaus, wo selten jemand parkte und außer den paar Obdachlosen, die gelegentlich im Schutz der Rückwand am Flussufer übernachteten, kaum einmal jemand hinkam. Nun parkte dort Bens schwarzer VW-Bus. Tiefes Knurren und Schnüffellaute drangen heraus, und der Kleinbus wippte leicht auf und ab, als ob sich darin etwas Großes hin und her bewegte.

Genau das war natürlich auch der Fall.

„Er ist da drin eingesperrt, nicht?“

„Genau. Keine Angst, außerdem ist er zahm wie ein Kätzchen, das verspreche ich dir.“

Tess warf Ben einen zweifelnden Blick zu, als sie von der betonierten Schwelle stieg und um den Kleinbus herumging. „Will ich wissen, woher du den hast?“

„Eher nicht.“

Seit etwa fünf Jahren befand sich Ben Sullivan auf seinem persönlichen Kreuzzug für den Schutz von misshandelten exotischen Tieren. Seine Rettungsaktionen recherchierte und plante er von Fall zu Fall und ging dabei so geschickt vor, dass sogar ein Agent der Regierung noch etwas von ihm lernen konnte. Hatte er die nötigen Informationen zusammengetragen, dann brach er als Ein-Mann-Überfallkommando bei den jeweiligen Tierhaltern ein, befreite die misshandelten, unterernährten oder gefährdeten und illegal eingeführten Tiere aus der Hand ihrer Peiniger und brachte sie zu offiziell anerkannten Tierreservaten, die für artgerechte Unterbringung angemessen ausgerüstet waren. In Notfällen legte er ab und an einen Boxenstopp bei Tess in der Tierklinik ein, wenn die Wunden und Verletzungen seiner Schützlinge sofort medizinisch behandelt werden mussten.

So hatten sie sich vor zwei Jahren kennengelernt. Ben hatte Tess einen misshandelten Serval mit Darmverschluss gebracht.

Er hatte die kleine exotische Katze aus dem Haus eines Drogendealers gerettet, wo sie ein Hundespielzeug zerkaut und verschluckt hatte, das nun operativ entfernt werden musste. Es war eine minutiöse, langwierige Angelegenheit gewesen, aber Ben war die ganze Zeit über dageblieben. Und ehe Tess es sich versah, gingen sie auch schon miteinander aus.

Sie war nicht sicher, wie es gekommen war, dass aus dem Flirt mehr wurde, aber irgendwie war es dann passiert. Auf jeden Fall war Ben über beide Ohren in Tess verliebt. Tess mochte ihn

-  um ehrlich zu sein, sogar sehr - , aber irgendwie wusste sie, dass sie bei dem momentanen Stadium ihrer Beziehung bleiben würden. Sie waren einfach gute Freunde, die ab und zu miteinander ins Bett gingen. Und auch das war in der letzten Zeit etwas abgekühlt. Auf ihr Betreiben hin.

„Möchtest du die feierliche Enthüllung machen?“, fragte sie ihn.

Er öffnete die Doppeltür und schwang sie vorsichtig auf.

„Mein Gott“, hauchte Tess ehrfürchtig.

Der bengalische Tiger war räudig und ausgezehrt, sein Vorderlauf entstellt von einer offenen, eiternden Wunde, offenbar einer Brandverletzung. Aber so hager er auch war, der Tiger war die majestätischste Erscheinung, die Tess je gesehen hatte. Er starrte die beiden Menschen an, das Maul erschlafft, hechelnd hing die Zunge heraus. Die Pupillen waren vor Angst geweitet, seine Augen fast vollkommen schwarz. Der Tiger knurrte und schlug den Kopf gegen die Stangen von Bens Transportkäfig.

Vorsichtig kam Tess näher. „Ich weiß, du armes Ding. Du hast schon bessere Tage gesehen, nicht wahr?“

Sie runzelte die Stirn, als sie die seltsame, klumpige Verformung seiner Vorderpfoten bemerkte, dort, wo die Zehen waren.

„Hat man ihm etwa die Krallen gezogen?“, fragte sie, unfähig, die Verachtung in ihrer Stimme zu verbergen.

„Ja. Und die Fangzähne auch.“

„O Gott. Wenn sie sich schon ein so schönes Tier zulegen, warum verstümmeln sie es dann so grausam?“

„Es geht ja schließlich nicht an, dass das Werbemaskottchen die Kunden oder ihre kleinen Bälger in Fetzen reißt, weißt du?“

Tess starrte ihn an. „Werbemaskottchen? Du meinst doch nicht etwa die Waffenhandlung unten beim …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Egal. Ich willś gar nicht wissen.

Bringen wir das Kätzchen rein, damit ich es mir ansehen kann.“

Ben zog eine passgenaue Rampe aus dem Hinterteil seines Kleinbusses. „Spring rein und nimm die Bückseite des Käfigs.

Ich halte vorne, da ist es beim Abladen am schwersten.“

Tess tat wie geheißen und half ihm, den rollbaren Transportkäfig auf den Asphalt zu hieven. Als sie die Hintertür der Klinik erreichten, wartete Nora dort schon auf sie. Beim Anblick der Raubkatze keuchte sie auf und redete dann beruhigend auf den Tiger ein. Dann sah sie Ben bewundernd an.

„O mein Gott, das ist doch Shiva? Ich hab schon seit Jahren gehofft, dass er ausbricht und entkommt. Du hast einfach Shiva geklaut!“

Ben grinste. „Schatzeli,  ich weiß nicht, wovon du sprichst.

Das ist bloß ein streunender Kater, der heute Nacht auf meiner Türschwelle aufgetaucht ist. Ich dachte, unser Wunderdoc hier könnte ihn mir ein bisschen zusammenflicken, bevor ich ein gutes Zuhause für ihn finde.“

„O, Ben Sullivan, du bist ganz ein Schlimmer! Und mein Held!“

Tess winkte ihrer verliebten Assistentin. „Nora, könntest du bitte mit mir zusammen an dieser Seite anpacken? Wir müssen ihn über die Schwelle heben.“

Nora kam Tess zu Hilfe, und die drei hoben den Käfig an und hievten ihn in den hinteren Lagerraum der Klinik. Sie rollten den Tiger in den vorbereiteten Untersuchungsraum, der -  dank Ben -  neuerdings über einen Untersuchungstisch mit hydraulischer Hebevorrichtung verfügte. Das war ein Luxus, den Tess sich allein nie hätte leisten können. Auch wenn sie ihre kleine Stammkundschaft hatte, arbeitete sie nicht gerade im reichsten Teil der Stadt. Sie verlangte zudem weit weniger, als sie selbst in diesem Stadtviertel hätte nehmen können -  einfach weil es ihr wichtiger war, ihren Beitrag für eine bessere Welt zu leisten, als Profit zu machen.

Leider teilten ihr Vermieter und ihre Zulieferer diese Haltung nicht. Ihr Schreibtisch bog sich unter der Last von Mahnungen, die sie nicht viel länger würde aufschieben können. Sie würde ihre mageren persönlichen Ersparnisse angreifen müssen, und wenn die erst mal weg waren …

„Betäubungsmittel liegt auf dem Tresen“, unterbrach Nora ihren Gedankengang.

„Danke.“ Tess steckte die aufgezogene und zugestöpselte Spritze in die Tasche ihres weißen Laborkittels und dachte, dass sie sie wahrscheinlich gar nicht brauchen würde, so fügsam und lethargisch, wie ihr Patient war. Außerdem würde sie heute Nacht nur eine schnelle Untersuchung vornehmen und sich ein paar Notizen über den generellen Zustand des Tiers machen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was getan werden musste, damit ein sicherer Transport in sein neues Heim gewährleistet war.

„Meinst du, wir können Shiva oder wie dieser Streuner auch immer heißt, dazu bringen, von allein auf den Tisch zu springen, oder sollen wir gleich den Lift benutzen?“, fragte Tess, während Ben sich an den Schlössern des Käfigs zu schaffen machte.

„Wir können’s versuchen. Komm raus, mein Großer.“

Der Tiger zögerte einen Moment, hielt den Kopf geduckt und sah sich im hell erleuchteten Untersuchungsraum um.

Dann, als Ben ihm weiter gut zuredete, kam er tatsächlich aus dem Käfig heraus und ließ sich geschmeidig auf dem Metalltisch nieder. Während Tess leise mit ihm sprach und ihm den riesigen Kopf kraulte, setzte sich das Tier auf der Tischplatte wohlerzogen hin wie eine Sphinx, geduldiger als eine Hauskatze.

„Also“, sagte Nora, „braucht ihr jetzt noch was, oder kann ich gehen?“

Tess schüttelte den Kopf. „Klar, geh du nur. Danke, dass du so spät noch dageblieben bist. Das weiß ich wirklich zu schätzen.“

„Kein Problem. Die Party, zu der ich gehe, kommt sowieso erst nach Mitternacht in die Gänge.“ Nora warf ihre langen blonden Zöpfe über die Schultern. „Also, dann bin ich mal weg.

Ich schließe beim Rausgehen ab. Nacht, ihr beiden.“

„Gute Nacht“, antworteten sie unisono.

„Sie ist ein prima Mädchen“, sagte Ben, nachdem Nora gegangen war.

„Nora ist die Beste“, stimmte Tess ihm zu, kraulte Shiva und tastete in seinem dicken Fell nach Hautverletzungen, Knoten oder anderen Auffälligkeiten. „Und sie ist kein Mädchen mehr, Ben, sie ist einundzwanzig und fängt demnächst ihr Studium der Veterinärmedizin an, sobald sie mit ihrem letzten Semester am College fertig ist. Sie wird eine wunderbare Tierärztin abgeben.“

„Keine ist so gut wie du. Du hast das magische Händchen, Doc.“

Tess nahm das Kompliment mit einem Achselzucken entgegen, aber es war schon etwas Wahres daran. Sie bezweifelte, dass Ben wusste, wie recht er hatte. Tess verstand es selbst kaum, und was sie verstand, hätte sie am liebsten verdrängt. Verschämt verschränkte sie die Arme und verbarg ihre Hände vor seinem Blick.

„Du musst auch nicht dableiben, Ben. Ich würde Shi …“ Sie räusperte sich und zog eine Augenbraue hoch. „Also, ich würde meinen Patienten gerne für heute zur Beobachtung hier behalten. Bis morgen werde ich noch keine Eingriffe an ihm vornehmen, und bevor ich damit anfange, rufe ich dich an und sage dir, was ich gefunden habe.“

„Du schickst mich jetzt schon weg? Ich dachte, ich könnte dich zum Abendessen überreden.“

„Ich habe schon vor Stunden zu Abend gegessen, Ben.“

„Dann eben Frühstück. Bei mir oder bei dir?“

„Ben“, sagte sie und wich ihm aus, als er zu ihr herüberkam und ihre Wange streichelte. Seine Berührung war warm und zart und wohltuend vertraut. „Das haben wir doch schon mehr als einmal besprochen. Ich denke einfach nicht, dass es eine gute Idee ist …“

Er stöhnte leise auf, ein eindeutig zu erregtes Stöhnen, tief und heiser. Es hatte eine Zeit gegeben, in der dieses Stöhnen ihre Selbstbeherrschung in Butter verwandelt hatte, aber nicht heute Nacht. Nie, nie wieder, wenn sie irgendwie ihre persönliche Integrität bewahren wollte. Es kam ihr einfach nicht richtig vor, mit Ben ins Bett zu gehen, weil er etwas von ihr wollte, das sie ihm nicht geben konnte.

„Ich könnte doch dableiben, bis du hier fertig bist“, schlug er vor, versuchte es mit einem Kompromiss. „Mir gefällt die Idee nicht, dass du hier ganz allein bist. Das ist hier nicht gerade die sicherste Gegend.“

„Geht schon klar. Ich mache nur meine Untersuchung fertig, dann erledige ich noch etwas Papierkram und mache den Laden dicht. Kein Problem.“

Ben schmollte, er war drauf und dran, mit Tess Streit anzufangen, bis sie schließlich seufzte und ihm ihren speziellen Blick zuwarf. Sie wusste, dass er den verstand, den hatte er in ihren gemeinsamen zwei Jahren oft zu sehen bekommen. „Na gut“, lenkte er schließlich ein. „Aber bleib nicht zu lange. Und morgen früh rufst du mich gleich an, versprochen?“

„Versprochen.“

„Und du bist dir ganz sicher, dass du allein mit Shiva zurechtkommst?“

Tess sah auf das magere Geschöpf herunter, das ihr prompt die Hand leckte, sobald sie in seine Reichweite kam. „Wir kommen schon klar miteinander.“

„Was hab ich gesagt, Doc? Dein magisches Händchen. Sieht aus, als wäre er dir auch schon verfallen.“ Ben fuhr sich mit den Fingern durch sein goldblondes Haar und sah sie gespielt niedergeschlagen an. „Ich schätze, um dein Herz zu erobern, muss ich mir Fell und Fangzähne wachsen lassen, ist es das?“

Tess lächelte und rollte die Augen. „Geh nach Hause, Ben.

Ich ruf dich morgen an.“

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